Herbert Wilp (geb. 12.6.1928 Immendorf)

Die Biografie der Jungen war eng mit der jüdischen Schaustellerdynastie Meyer aus Neuwied verknüpft. Das noch
heute noch bestehende, im Volksmund „Karussellen-Meyer“ genannte Unternehmen wurde um 1872 aus kleinsten
Anfängen heraus von Jakob Meyer in Neuwied-Niederbieber gegründet und später nach Neuwied-Heddesdorf
verlegt. Hier in der Junkerstraße 45 hatten die Meyers ihren Familiensitz. In diesem Haus verbrachten auch
Hermann und Herbert Wilp die ersten Jahre ihrer Kindheit. Unter der Obhut der Großeltern und deren lediger
Tochter Rosa Meyer (1897-1942) wurden die Jungen jüdisch erzogen und gewannen erste Einblicke ins
Schaustellermilieu. Die Großeltern, Wolf Meyer (1871-1944) und seine in Koblenz geborene Frau Mathilde geb.
Mayer (1873-1942), hatten das Geschäft 1898 vom 1910 gestorbenen Firmengründer Jakob Meyer übernommen
und führten es bis zur Zwangsschließung 1935. Sowohl die Großeltern wie auch Tante Rosa wurden nach
Theresienstadt bzw. Auschwitz deportiert und ermordet. Der älteste Sohn Julius Meyer (1896-1968) wandte sich
1921 ebenfalls der Schaustellerei zu und unterhielt eine Raupenbahn. Er verlegte aber den Wirkungskreis nach
Köln-Kalk, um nicht mit seinen Eltern zu konkurrieren. 1930 kamen noch zwei von einem einheimischen
Geschäftsführer verwaltete Fahrgeschäfte in den Niederlanden hinzu. Verheiratet war Julius Meyer mit der aus
einer katholischen Schaustellerfamilie stammenden Agnes geb. Klauer (1896-1990). Ihr setzte der gebürtige
Neuwieder und spätere DDR-Botschafter in Warschau, Dr. Friedrich Wolf (1888-1953), mit dem Romanfragment: „Die Karussellagnes – Roman einer tapferen Frau“ ein literarisches Denkmal, das er aufgrund seines frühen Todes
aber nicht vollenden konnte. Als Romanvorlage dienten Friedrich Wolf die im Januar 1949 verfassten
Familienaufzeichnungen von Julius Meyer, aus denen auch in der vorliegenden Recherche mehrfach zitiert wird.
Julius Meyer war eine starke, manchmal auch streitbare Persönlichkeit. Als ältester Sohn gestaltete er
insbesondere in der NS-Zeit den Zusammenhalt der „Karussellen-Meyers“ in äußerst verantwortlicher Weise. Bis
Juli 1944 weitgehend durch seine „Mischehe“ mit Agnes Klauer geschützt, überlebte er - begünstigt durch manch
glücklichen Zufall - letztlich nur mit Hilfe seiner nichtjüdischen Frau. Nach 1945 leitete Julius Meyer die Jüdische
Kultusgemeinde Kreis Neuwied und wurde in den Vorstand der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und
der Opfer des Faschismus gewählt. In seinen Aufzeichnungen würdigte er in bewegenden Worten das Wirken
seiner Frau Agnes, „die sich in all den Jahren schützend und selbst verzehrend vor die ganze Familie stellte.“


Familie Wilp und ihr Schaustellerleben


Außer Rosa hatte Julius Meyer noch die Geschwister Emma (geb. 1898), die 1930 den evangelischen
Karussellbesitzer Wilhelm Braun aus Giengen bei Ulm heiratete, Johanna (1910-1943), die 1942 Norbert
Gundersheim heiratete und Frieda Meyer (geb. 8.1.1905 Neuwied), die Mutter von Hermann und Herbert. Sie hatte
1924 den katholisch getauften Schuster Adolf Wilp (geb. 17.6.1901 Emsdetten) geheiratet, „der zwar als Arier galt, in
Wirklichkeit aber ein vollkommen jüdisches Aussehen hatte“, wie Julius Meyer seinen Schwager beschrieb.
Tatsächlich stammte Adolf Wilps Mutter Sara gen. Maria geb. Horn (1873-1957) aus einer jüdischen Familie in
Kommern, war aber schon vor ihrer kirchlichen Heirat 1899 mit dem „Arier“ Gerhard Wilp zum Katholizismus
übergetreten. Adolf Wilp wuchs also in einem katholischen Umfeld auf und hatte schon deshalb nie Zweifel an
seiner „arischen“ Abstammung. Einige Jahre nach der Heirat gab er die Schuhmacherei auf und bestritt den
Lebensunterhalt mit einem kleinen Kettenkarussell. Der Wechsel ins ambulante Gewerbe geschah auf Drängen
seiner Frau, die sich als Schaustellertochter bestens in diesem Metier auskannte und auch den geschäftlichen Part
übernahm. Mitte Juni 1928 beschickten Adolf Wilp und seine zu diesem Zeitpunkt hochschwangere Frau Frieda
die Kirmes im heutigen Koblenzer Stadtteil Immendorf. Hier kam Herbert im Wohnwagen zur Welt. Das Leben
der Schaustellerfamilie war geprägt von zahlreichen berufsbedingten Ortswechseln. Dabei hielt sie sich mit
Unterbrechungen von März 1930 bis Dezember 1935 unter verschiedenen Adressen auch in Koblenz auf, vor
allem in den Vororten Ehrenbreitstein, Lützel und Metternich. Der Alltag der Familie spielte sich während dieser
Zeit im Wohnwagen ab, der mit eigener Zugmaschine befördert und auf angemieteten Gewerbeflächen oder
staatlichen Grundstücken abgestellt wurde. Die in Koblenz aufgesuchten Stellplätze lagen am ehemaligen Lazarett
in Ehrenbreitstein (Im Teichert 110), im Wöllershof (Fischelstraße 32), an der Gülser Straße 140 nahe dem
Gaswerk Metternich und in der Andernacher Straße 22 in Lützel, dem Lagerplatz der Holz- und Kohlenhandlung
Wilhelm Mohr. An Heiligabend 1935 verließ die Familie ihren Stellplatz im Hinterhof des Hauses Schüllerplatz 9
in Lützel und reiste mit einem kleinen Abstecher über Heddesdorf in Etappen weiter nach Dortmund, wo Adolf
Wilp vor seiner Ehe 1924 schon einmal für kurze Zeit gelebt hatte. Sohn Hermann hatte man bereits Anfang
Januar 1932 von Koblenz zurück zu den Großeltern nach Heddesdorf geschickt, wohl um hier der Schulpflicht zu
genügen. Die jetzt aus drei Personen bestehende Familie traf am 27.1.1936 in Dortmund ein. Als Stellplatz diente
das vornehmlich von Schaustellern und Artisten frequentierte Werksgelände der Schraubenfabrik Kopfermann AG
in der Schlägelstraße 58. Von hier wurde auch Herbert am 20.2.1937 zunächst zurück nach Heddesdorf zu den
Großeltern, später zu Bekannten nach Erpel am Rhein gebracht. Mitte September 1937 wechselten die Eheleute
Wilp innerhalb Dortmunds in die Bornstraße 204 und wohnten dort „bei Müller“.


Auf Tour in Westfalen


Familie Wilp hatte die fernab ihres Heimatorts Neuwied liegende Großstadt Dortmund mit Bedacht zum festen
Wohnsitz gewählt. Von hier aus hoffte sie ihre Karusselltouren durch Westfalen unerkannt auf kleinen, wenn auch
weniger lukrativen Plätzen durchführen zu können. Dem Grundsatz „Aus den Augen aus dem Sinn“ war bereits
auch Julius Meyer gefolgt. Er hatte seine Reiserouten sogar nach Schlesien, Oberschlesien, Ost- und Westpreußen
sowie Danzig verlegt, ebenfalls in der Hoffnung, dort unerkannt zu bleiben. „Jedoch auch dieses war“, wie er
eingestand, „eine Enttäuschung, unser Name war zu populär – man kannte den Karussellen-Meyer in Königsberg,
Tilsit, Stolpe [Pommern], Danzig oder Beuthen genau so, wie im Rheinland.“ Im Dezember 1937 gerieten Frieda
und Adolf Wilp in ernste Schwierigkeiten mit der Gestapo. In der gegen Ende 1937 angespannten
Einkommenssituation hatte Frieda Wilp unerlaubt mit einem arischen Bekannten kooperiert und war deshalb von
der Konkurrenz bei der Gestapo denunziert worden. Sie bekam es mit der Angst zu tun und setzte sich mit Sohn
Herbert illegal ins niederländische Enschede ab. Ihr Mann verkaufte daraufhin zum Schein das Karussell für 100
RM - der tatsächliche Wert belief sich auf 6000 RM - an zwei Schaustellerkollegen in Dortmund-Hörde und reiste
seiner Familie in die Niederlande nach. Am 20.12.1937 telegrafierte die Gestapo Dortmund an „alle westlichen
Stapoleit-, Stapo- und Grenzdienststellen“ sowie alle zuständigen „Kripo-Stellen“, den in Dortmund wohnhaft
gewesenen Schausteller Adolf Wilp in „Schutzhaft“ zu nehmen. Während einer Kontrolle wurden Frieda, Adolf
und Sohn Herbert als Illegale von der niederländischen Polizei aufgegriffen, über die Grenze abgeschoben und am
4.1.1938 von der Gestapo verhaftet. Anschließend hielt man Frieda und Adolf Wilp ohne Anklage für beinahe
zwei Monate im Dortmunder Gestapo-Gefängnis Steinwache in Haft. Während Frieda Wilp am 22.2.1938 wieder
auf freien Fuß gesetzt wurde, kam ihr Mann erst drei Tage später frei. Vor Haftantritt hatte Frieda Wilp die Polizei
gebeten, Sohn Herbert bei Bekannten in Dortmund-Hörde abzuliefern. Hier wurde Herbert von seinem inzwischen
informierten Onkel Julius Meyer völlig verstört angetroffen und zu seinen Großeltern nach Neuwied gebracht.
Über den Aufenthalt von Sohn Hermann während dieser Zeit liegen keine Angaben vor.


Reichspogromnacht und Emigration in die Niederlande


Mit den Novemberpogromen 1938 hatte sich die Lage der von den Nürnberger Rassengesetzen betroffenen
Familie dramatisch zugespitzt. Allein in Neuwied waren bei den Ausschreitungen 18 jüdische Bürger
vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen - unter ihnen auch Wolf Meyer - und 38 Häuser demoliert worden,
darunter auch das Haus der Familien Meyer/Wilp in der Junkerstraße 45. Besonders gefährdet war Frieda Wilp.
Entsprechend ihrer jeweils beiden jüdischen Eltern und Großeltern führte sie die Koblenzer Gestapo-Kartei als
[Voll-]“Jüdin“. Ihr katholisch getaufter Ehemann Adolf Wilp sollte erst später ins Visier der
nationalsozialistischen Rassenideologie geraten. Die Kinder Hermann und Herbert registrierte die Koblenzer
Gestapo dagegen von Anfang an als „Jüdische Mischlinge“. Nach den Rassengesetzen galten sie wegen der
jüdischen Herkunft ihrer Mutter und Großeltern mütterlicherseits als „Mischlinge 1. Grades“. Da aber die
Meldeunterlagen in Neuwied und Dortmund ihre Glaubenszugehörigkeit mit „israelitisch“ angaben, könnten sie
auch als „Geltungsjuden“ eingestuft worden sein. Damit wären sie denselben diskriminierenden Bestimmungen
und Sanktionen wie [Voll-]“Juden“ ausgesetzt gewesen. In dieser Situation entschlossen sich die Eltern, ihre
Kinder in den Niederlanden in Sicherheit zu bringen. Nur einen Monat nach den Pogromen meldeten sich Frieda
Wilp und ihre Söhne im Dezember 1938 von Neuwied nach Amsterdam ab. Die noch erhaltenen niederländischen
Einreisekarten bestätigen, dass Hermann und Herbert - ausgestattet mit gültigen Einreisepapieren - am 21.12.1938
mit dem Zug die Staatsgrenze bei Gronau passierten und über Enschede nach Amsterdam reisten, wo sie noch am
gleichen Tag vom „Kindercomité“ registriert wurden. Ob sie von ihrer Mutter bis Amsterdam begleitet wurden,
steht nicht zweifelsfrei fest. Denn obwohl sich Frieda Wilp offiziell bei der Neuwieder Meldebehörde nach
Amsterdam abgemeldet hatte, kann hier weder ihre Anmeldung nachgewiesen werden, noch wurde sie als
Begleitperson auf den Einreisekarten ihrer Kinder vermerkt, wie dies in zahlreichen anderen Fällen geschah.
Vieles spricht dafür, dass sie den Grenzübertritt aus Angst, nicht mehr nach Deutschland einreisen zu dürfen, nicht
wagte oder daran gehindert wurde. Ihre Söhne Hermann und Herbert gehörten nach dem Grenzübertritt zu den
rund 30.000 deutsch-jüdischen Bürgern, die zwischen 1933 und 1945 im Nachbarland Niederlande Zuflucht
suchten. Ausschließlich familiäre Gründe hatten den Ausschlag gegeben, warum Frieda Wilp ihre Kinder in die
Niederlande gab. Hier hielt sich bereits seit dem 27.9.1938 ihre Schwester Johanna Meyer auf, die zudem vor ihrer
Abreise zugesagt hatte, sich um die Jungen zu kümmern. Johanna hatte Heddesdorf fluchtartig verlassen, nachdem
ihr der Neuwieder Amtgerichtsrat Dr. Fritz Selter vertraulich mitgeteilt hatte, dass gegen sie eine Anzeige wegen
ihrer Beziehung zu einem nichtjüdischen Mann vorlag. Dr. Selter empfahl ihr dringend, sofort zu verschwinden.
Johanna fuhr sofort nach Köln zu ihrem Bruder Julius Meyer in die Elisenstraße, der ihr riet, in die Niederlande zu
emigrieren. Julius Meyer brachte sie persönlich zur Bahn und gab ihr einen Brief an seinen niederländischen
Geschäftsführer mit. Darin wies er ihn an, seiner Schwester 1500 Gulden auszuzahlen, damit sie fürs Erste
versorgt sei. Der Geschäftsführer, der die als „Notgroschen“ gedachte Summe schon seit Jahren von Julius Meyer
in Verwahr hatte, erwies sich jedoch als unehrlich. Er gab Johanna anfänglich ein paar kleinere Geldbeträge, stellte
dann aber die Zahlung ganz ein. Johanna suchte sich daraufhin eine Stelle als Hausmädchen bei einer jüdischen
Zahnarztfamilie in Amstelveen nahe Amsterdam, „deren Benehmen gegenüber meiner Schwester mir nicht
gefiel“, wie Julius Meyer nach einem Besuch bei ihr feststellte. Während seines Aufenthalts traf er sich auch mit
seinen Patenonkel Julius Meyer (1882-1943). Der Bruder seines Vaters war Anfang Dezember 1938 zusammen
mit seiner Frau Helene geb. Schäfer (1886-1943) von Niederbieber in die Niederlande emigriert. Nach zahlreichen
Orts- und Wohnungswechseln bezog das Ehepaar Meyer schließlich am 24.6.1940 in Amsterdam, Amstelveld 11,
seine letzte Wohnadresse, wo sich mit Gustav Meyer (1888-1943) ein weiterer Verwandter aufhielt. Auch Johanna
Meyer zog Anfang Juli 1939 von Amstelveen nach Amsterdam und wohnte hier unter anderem von April bis
August 1941 bei ihrem Onkel Julius Meyer. Wenige Tage nach ihrer Hochzeit am 7.1.1942 mit Norbert
Gundersheim (1908-1944) aus Frankfurt a. M. übersiedelte Johanna Gundersheim zu ihrem Mann nach Hilversum.
Alle hier genannten Personen wurden aus dem Transitlager Westerbork in die Vernichtungslager Auschwitz oder
Sobibor deportiert und ermordet.


Aufenthalt in Schlesien und Vater Wilps Einberufung zur Wehrmacht


Nach ihrer Entlassung aus dem Dortmunder Gestapogefängnis hatten sich Frieda und Adolf Wilp Anfang 1938
vergeblich um die Rückgabe ihres Karussells bemüht, denn die „beiden Gauner, welche den Scheinvertrag mit
dem Schwager getätigt hatten, gaben das Karussell nicht wieder heraus und erklärten den Vertrag für echt“,
beschrieb Julius Meyer den Sachverhalt. Familie Wilp konnte nun nicht mehr für ihren Lebensunterhalt sorgen.
Dankbar ergriff sie daher das Angebot von Julius Meyer, ihn als Helfer auf seinen Gastspielen in Schlesien zu
begleiten. Obwohl sich Frieda und Adolf Wilp anschließend fast ständig in Schlesien aufhielten, behielten sie
ihren festen Wohnsitz in Dortmund. Erst am 19.7.1939 meldeten sie sich nach Breslau in die Kupferschmiedstraße
18 um. Im Oktober lautete ihre Anschrift Herdainstraße 36. Die Ummeldung stand wohl im Zusammenhang mit
der Wehrerfassung Adolf Wilps, dessen rassische Herkunft immer noch ungeklärt war und der deshalb bis zum
Beweis des Gegenteils wie ein wehrpflichtiger „Arier“ behandelt wurde. Folgerichtig wurde der damals 38-Jährige
unmittelbar nach seiner Niederlassung in Breslau im Juli 1939 zur Wehrmacht eingezogen. Julius Meyer empfand
die Einberufung seines Schwagers „wie eine Erlösung“. Denn aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten am
Vorabend des Zweiten Weltkriegs bewegte sich sein Unternehmen am Rand des Ruins. Immerhin mussten bis
dahin unter erschwerten Auftrittsbedingungen, Mindereinnahmen und erhöhter Steuerlast fünf Mitglieder der
Familien Meyer/Wilp sowie zwei bis drei Angestellte durch die Raupenbahn ernährt werden. Adolf Wilp wurde in
die im August 1939 in Breslau gebildete 14. Panzerjägerkompanie (Infanterie-Ersatz-Regiment 221) eingezogen,
der er bis zum 16.2.1940 angehörte. Zwei Tage später wies man ihn dem ebenfalls in Breslau/Kanth stationierten
Infanterieregiment 183 (62. Infanteriedivision) zu, in dem er bis zum 10.3.1941 im Grenzschutz-Abschnitts-
Kommando 14 zunächst an der Grenze zu Polen, ab Oktober 1939 in der Westeifel und seit Mai 1940 an der
belgischen Grenze Wach- und Sicherungsdienst leisten musste. Seine Frau Frieda war spätestens im Oktober 1939
wieder nach Heddesdorf ins Haus ihrer Eltern gezogen und erhielt als Soldatengattin sogar staatliche
Versorgungsbezüge. Während seiner Stationierung an der belgischen Grenze fand Adolf Wilp immer wieder
Gelegenheit, seine Frau und Schwiegereltern in Heddesdorf zu besuchen. Offenbar nutzte er für die Fahrten aus
der Eifel nach Neuwied auch Wehrmachtsfahrzeuge. Jedenfalls vermerkt seine Gestapo-Karte am 31.5.1940:
„Adolf Wilp befindet sich z. Zt. bei der Wehrmacht. Soll sich öfter in Uniform bei seinen jüdischen Verwandten in
Neuwied aufgehalten haben.“ Und am 14.1.1941: „Die Ermittlungen wurden eingestellt, da Wilp nicht mehr im
Kraftwagen (Militär) bei seinen Verwandten gesehen wurde.“ Vom 13.3. bis zum 25.10.1941 gehörte er der
Kleinkraftwagen-Kolonne 1/162 (62. Infanteriedivision) an, die kurzfristig beim Angriff auf die Sowjetunion im
Juni 1941 eingesetzt wurde. Mit Datum 3.11.1941 wird Adolf Wilp im Dienstgrad eines Gefreiten als Fahrer in der
Genesendenkompanie der im besetzten Metz stationierten Kraftfahr-Ersatzabteilung 8 letztmalig in den
Wehrmachtsunterlagen geführt. Ein expliziter Eintrag, der die Entfernung Wilps aus rassischen Gründen aus der
Wehrmacht belegt, fehlt. Allerdings nennt der Internationale Suchdienst in Arolsen ein starkes Indiz für einen
rassisch motivierten Wehrmachtsauschluss. In deren Unterlagen lautet Adolf Wilps Religionszugehörigkeit
„Jüdisch“ und er trägt den Zwangsvornamen „Israel“, mit dem männliche Juden ab Januar 1939 gekennzeichnet
sein mussten. Endgültige Aufklärung gibt einmal mehr Julius Meyer: „Schwager Wilp wurde aus der Wehrmacht
entlassen, weil sich herausstellte, daß das, was wir immer vertuschten, Wirklichkeit war, er war jüdischer
Abstammung, wenn auch getauft.“ Nach eigenen Angaben arbeitete Adolf Wilp anschließend bis Februar 1942 als
Lieferfahrer bei der Kolonialwaren-Großhandlung Gebrüder Falkenburg in Neuwied, Schlossstraße 76. Werner
Falkenburg, ein Sohn des damaligen Firmenmitinhabers Walter Falkenburg, bezeichnete Adolf Wilp im November
2010 als einen „ganz wilden Fahrer“. Dies habe er selbst 1942 bei einer gemeinsamen Fahrt im Auftrag seines
Vaters zu einer Kaffeerösterei nach Köln feststellen können. Zudem versicherte er, Wilp sei Träger des Eisernen
Kreuzes II. Klasse gewesen. In den Wehrmachtsunterlagen findet sich allerdings kein Hinweis auf eine
Ordensverleihung.


Hermanns und Herberts Wanderleben in den Niederlanden und ihre Bekanntschaft mit Anne Frank


Die dreizehn- und zehnjährigen Brüder Hermann und Herbert Wilp waren sofort nach ihrer Ankunft am
21.12.1938 im Quarantänelager Zeeburgerdijk 321 im Amsterdamer Stadtteil Zeeburg registriert worden. Das
Quarantänelager bildete den Ausgangspunkt für eine mehrjährige Odyssee durch die Niederlande, die
exemplarisch war für rassisch oder politisch verfolgte Flüchtlinge aus Deutschland und dem besetzten Europa.
Nach dreiwöchigem Lageraufenthalt kamen Hermann und Herbert am 10.1.1939 nach Ruinen, wo sie im
Noorderhuis am Toldijk D 155 vorübergehend Zuflucht fanden. Von hier wechselten sie am 20.4.1939 nach
Gouda ins „Orphanage“ (Waisenhaus) in der Spieringstraat 1, in dem wenige Tage zuvor ein
Jugendflüchtlingscamp eröffnet hatte. Da die Einrichtung bereits im Dezember 1939 wieder geschlossen wurde,
verlegte man Hermann und Herbert am 13.12.1939 erneut ins Quarantänelager Zeeburg. Hier trennten sich im
Februar 1940 die Wege der Brüder. Hermann, der bereits am 1.12.1939 in die Hauptmeldekartei aufgenommen
worden war und damit als offizieller Bürger Amsterdams galt, gelangte am 22./24.2.1940 ins „Werkdorf der
Stiftung Jüdische Arbeit“ nahe Nieuwesluis im Nieuwe Sluizerweg A 17 am Wieringermeer. Hermann muss das
Werkdorf noch vor der offiziellen Schließung im Sommer 1941 wieder verlassen haben, denn auf einer am
7.5.1941 erstellten Belegungsliste taucht er nicht mehr auf. Vermutlich war er bereits im März 1941 nach
Amsterdam gezogen, wo er auf Kosten des von der deutschen Besatzung installierten Joodsche Raad voor
Amsterdam (Judenrat Amsterdam) einen kurzen Aufenthalt im Hotel der Lloyd Shipping Company in der
Oostellijke Handelskade 34 nahm. Anschließend wechselte er die Unterkünfte im Monatstakt: Ab dem 9.7.1941
wohnte er bei einer Familie Bonhof in der Hunzestraat 73, ab dem 6.8.1941 bei der jüdischen Familie Dr. Karl
Dornberger (1884-1942) in der Niersstraat 59. Am 3.9.1941 zog er in die Niersstraat 43 und am 17.1.1942 fand er
Aufnahme im Haus der jüdischen Familie Leo Leibholz (1873-1943) in der Dongestraat 1. Herberts Weg führte
dagegen vom Quarantänelager Zeeburg nach Haarlemmermeer, wo er ab dem 3.2.1940 im Haus Akerdijk 145 bei
dem aus Wien stammenden Ehepaar Franz Leopold Hofer und Johanna geb. Eisler unterkam. Nach
achtmonatigem Aufenthalt schickte man ihn am 6.10.1940 weiter nach Apeldoorn in die Cereslaan 6. Hier durfte
er sich immerhin über ein Jahr aufhalten. Im Januar 1942 traf auch er in Amsterdam ein und wohnte ab dem 23.
bei der Familie des jüdischen Schneiders David Cohen (1900-1944) in der Ruyschstraat 13. Ein halbes Jahr später
setzte der Amsterdamer Judenrat am 26.7.1942 das niederländische Justizministerium davon in Kenntnis, dass
Herbert Wilp die Familie Cohen verlassen habe. Er stehe auch nicht mehr unter der Fürsorge des Rates, da er ins
Hitler-Jugend-Haus Singel 129 umgezogen sei. Ob Herbert auch Mitglied der Amsterdamer Hitlerjugend war, geht
aus dem Schreiben des Judenrats nicht hervor. Offiziell kam Herbert am 3.8.1942 im Haus Singel 129 zur
Anmeldung. Es ist seine letzte bekannte Adresse in den Niederlanden. Der Hausbesitzer Johan Josef Brassé (1883-
1943) bewegte sich im Amsterdamer Rotlichtmilieu. Beinahe zeitgleich mit dem Einzug Herberts wurde er im
August 1942 aus unbekannten Gründen verhaftet und vom Sicherheitsdienst (SD) ins Lager Vught verbracht, wo
er 1943 starb. Ob und auf welche Weise er mit der Amsterdamer Hitlerjugend verstrickt war, ist bislang ebenso
ungeklärt wie die Umstände, die Herbert in das Haus Brassés führten.
Während ihres Aufenthalts in den Niederlanden waren Hermann und Herbert weitgehend auf sich allein gestellt.
Allerdings gab es innerhalb der Exilantenszene Netzwerke, die zur gegenseitigen Unterstützung ebenso hilfreich
wie unerlässlich waren. Besonders für Halbwüchsige wie Hermann und Herbert, die sich als uncompanied
children ohne elterliche Fürsorge durchschlagen mussten. Als Schaustellerkinder empfanden sie die zahlreichen
Orts- und Wohnungswechsel sicherlich weniger belastend als Kinder sesshafter Familien. Aber die fehlende
Zuwendung der Eltern war ein Mangel, den auch die Fürsorgemaßnahmen der Kinderabteilung des Judenrats nicht
ausgleichen konnten. Bei Hermann kann davon ausgegangen werden, dass er zumindest zeitweise von der Familie
Otto und Edith Frank geb. Holländer unter die Fittiche genommen wurde. Allerdings war er nicht im Haus der
bereits 1933 mit ihren Kindern von Frankfurt a. M. nach Amsterdam emigrierten Familie Frank gemeldet,
demnach also kein Pflegekind im klassischen Sinne. Seine Betreuung durch die Familie Frank könnte sich auf
einfache, für den Jugendlichen jedoch lebenswichtige Hilfestellungen bei der Bewältigung seines Alltagslebens
erstreckt haben, indem sie etwa für seine Verpflegung und saubere Kleidung sorgten oder einfach nur als
Ansprechpartner für ihn da war. Wie genau die Beziehung zu den Eltern von Anne Frank (1929-1945) zustande
kam, deren Tagebuch bis heute von Millionen Menschen gelesen und in mehr als 60 Sprachen übersetzt wurde, ist
bislang ungeklärt. Dass die Wilp-Brüder, insbesondere aber Hermann, in einer mehr oder weniger engen
Verbindung zur Familie Frank standen, beweisen zwei um 1940 entstandene Aufnahmen aus dem persönlichen
Fotoalbum von Anne Frank. Ein Foto zeigt Anne mit ihrer älteren Schwester Margot Frank (1926-1945) und
Hermann Wilp auf dem Merwedeplein in Amsterdam. Die eigenhändige Bildunterschrift Annes bezeichnet
Hermann als „de pleegzoon“ (Pflegesohn). Sie setzte das Wort in Anführungsstriche, womit sie wohl scherzhaftironisch
andeuten wollte, dass Hermann kein Pflegesohn in herkömmlichem Sinne mit direktem
Familienanschluss war. Auf der zweiten Aufnahme (siehe Foto oben) stehen die Brüder mit Anne Frank in einem
Nutzgarten, das Anne mit dem Hinweis beschriftete: ‚Hermann en Herbert Wilp’. Hermann, in der Mitte stehend,
hat dabei die Arme um Anne und Bruder Herbert gelegt. Besonders dieses vermutlich von Vater Otto Frank
gemachte Foto vermittelt den Eindruck einer mehr als nur flüchtigen Bekanntschaft zwischen der Familie Frank
und den Brüdern Wilp. Die ländliche Umgebung spricht dafür, dass die Aufnahme auf dem Gut der Familie Hofer
in Haarlemmermeer entstanden sein könnte, wo Herbert von Februar bis Oktober 1940 lebte. Als man Anfang
2010 Frau Tiggelaar-Bart, damals Hausmädchen bei Familie Hofer, das Foto zeigte, war sie über Herberts gelösten
und heiteren Gesichtsausdruck überrascht. Gewöhnlich habe er, erinnerte sie sich, eher besorgt und bedrückt
gewirkt. Aber auch Apeldoorn kommt als Aufnahmeort des Fotos in Betracht. Hier hatte sich Herbert von Oktober
1940 bis Januar 1941 aufgehalten. Wo das Foto tatsächlich aufgenommen wurde, konnte nicht abschließend
geklärt werden. Anne Frank erwähnt die Brüder Wilp nicht in ihrem Tagebuch. Sie begann ihre Eintragungen erst
im Juni 1942 zu einem Zeitpunkt, als sie mit ihrer Familie im Versteck lebte und keinen Kontakt mehr zur
Außenwelt hatte.


Hermanns Wehrmachtseintritt und der Kampf um die „Abstammungspapiere“


Hermann Wilp hatte nach seiner Ankunft in der Landwirtschaftskolonie „Werkdorf der Stiftung Jüdische Arbeit“
am Wieringermeer im Februar 1940 eine Ausbildung begonnen, die er jedoch nicht zu Ende führte. Vermutlich
war er schon im März 1941 und damit vor Schließung des Werkdorfs im Sommer 1941 nach Amsterdam gezogen.
Da nur das Werkdorf aufgelöst worden war, nicht aber die „Stiftung Jüdische Arbeit“, wurde Hermann weiterhin
als Auszubildender in deren Schulliste geführt. Deshalb teilte die Stiftung der Amsterdamer Ausländerbehörde am
22.4.1942 mit, Hermann habe darum gebeten, ihn als Schüler von der Liste der Stiftung zu streichen, weil er die
jüdische Gemeinde verlassen und in die deutsche Wehrmacht eintreten wolle. Die Kinderabteilung des
Amsterdamer Judenrats erklärte sich dennoch bereit, ihn solange zu betreuen, bis er die erforderlichen deutschen
Abstammungspapiere erhalten habe. Zu diesem Zeitpunkt war Hermann bereits vom „Wehrbezirkskommando
Ausland [Außenstelle Holland], Untersuchungsort Amsterdam“ gemustert und am 24.4.1942 für
„kriegsverwendungsfähig“ erklärt worden. Das Ergebnis der Musterung teilte der Judenrat am 27.4.1942 der
Ausländerbehörde in Amsterdam mit. Rund drei Monate später wurde Hermann Wilp am 17.7.1942 vom
Wehrbezirkskommando Ausland (Berlin) zur Panzer-Ersatzabteilung 11 in Paderborn eingezogen, obwohl sein
Abstammungsstatus noch immer ungeklärt war. Die Frage der „rassischen Einordnung“ war innerhalb der
Familien Meyer/Wilp bereits im ersten Winterhalbjahr 1940 schlagartig in den Vordergrund getreten. Als nämlich
Mutter Mathilde Meyer geb. Mayer ihren Kindern Julius, Rosa, Emma, Frieda (Wilp) und Johanna Meyer
eröffnete, dass sie unehelich geboren worden und ihr aus Aachen stammender Vater christlicher Religion gewesen
sei, keimte vorübergehend Hoffnung auf. Sie habe unehelich aufwachsen müssen, weil die strenggläubigen
jüdischen Eltern ihrer inzwischen verstorbene Mutter Clara Mayer (geb. 1849) die Ehe mit einem Christen nicht
erlaubt hätten. Sofort wurde ein nicht mehr zugelassener jüdischer Anwalt in Köln beauftragt, die Einstufung der
Kinder als „Mischlinge 1. Grades“ zu beantragen. Doch schon bald stellte sich heraus, dass im Geburtseintrag von
Mathilde Mayer (geb. 15.7.1873 Koblenz) der Kindsvater nicht eingetragen und deshalb die Beweisführung im Sinne
einer halbjüdischen Abstammung nicht möglich war. Als Hermann im Juli 1942 zur Wehrmacht eingezogen
wurde, waren im Koblenz-Neuwieder Raum bereits die ersten großen Judendeportationen durchgeführt worden. In
den Besitz „entlastender“ Abstammungspapiere zu gelangen, war zur Überlebensfrage geworden. Mit der
Beschaffung der Papiere hatte Familie Wilp Dr. jur. Isidor Treidel (1887-1944) aus Koblenz beauftragt. Dieser
hatte 1938 seine Rechtsanwaltszulassung verloren und durfte nur noch als „Konsulent - zugelassen zur rechtlichen
Beratung und Vertretung von Juden“ auftreten. Doch noch bevor Dr. Treidel seine Recherchen richtig beginnen
konnte, war Hermann Wilps Wehrmachtszugehörigkeit bereits wieder beendet. Erst im Juli eingezogen, kehrte er
im August 1942 wieder zu seinen Eltern nach Neuwied zurück, wo er am 24.9.1942 vom örtlichen
Wehrbezirkskommando offiziell aus der Wehrmacht entlassen wurde. Vermutlich in der zweiten Jahreshälfte 1942
- die genauen Umstände sind ungeklärt - war auch Herbert Wilp aus Amsterdam bei den Eltern eingetroffen, die
nun in der Marktstraße in der Neuwieder Innenstadt wohnten. Etwa zeitgleich mit der Rückkehr Hermanns aus
Paderborn hatte Dr. Treidel im August 1942 die „Abstammungsangelegenheit“ Wilp in Angriff genommen und
hielt sich in der Folge deswegen mehrfach in Neuwied auf, wie aus seinem Schreiben vom 16.3.1943 an Julius
Meyer in Münsterberg/Schlesien hervorgeht. Obwohl Dr. Treidels Nachforschungen noch nicht zum Abschluss
gelangt waren, zog sich im Februar 1943 die Schlinge um die Familie Wilp endgültig zu. Wie Schwager Julius
Meyer berichtet, war aus Adolf Wilps Heimatbehörde Emsdetten die Mitteilung des dortigen Polizeileiters
eingetroffen, der ihm eine jüdische Abstammung attestierte. Adolf Wilp war Abkömmling einer so genannten
Mischehe. Nach den NS-Rassengesetzen galt er aufgrund seiner, wenn auch katholisch konvertierten, dennoch
jüdischen Mutter Maria Wilp geb. Horn sowie seiner jüdischen Großeltern Heinrich Horn und Judula geb. Eiffeler
zunächst als „Mischling 1. Grades“. Doch die Ehe mit der „Volljüdin“ Frieda Meyer hatte seinen Mischlingsstatus
geändert, da nach NS-Definition Mischlinge 1. Grades, die mit einem Juden verheiratet waren, zu „Volljuden“
umzustufen waren. Diese rassische Einordnung erklärt auch, warum Adolf Wilp den Zwangsvornamen „Israel“
führen musste.


Deportation


Vor diesem Hintergrund wurde immer deutlicher, dass eine Deportation kaum noch zu verhindern war. Noch vor
Eintreffen der Mitteilung aus Emsdetten hatte die unermüdliche Agnes Meyer mehrfach, wenn auch vergeblich,
den Neuwieder Polizeichef und Politischen Leiter Heinrich Bonn auf die noch schwebenden, von Dr. Treidel
geführten Abstammungsverhandlungen hingewiesen und gleichzeitig an dessen Toleranz appelliert. Ebenso
erfolglos blieb ihre Bitte an Dr. Treidel, der auf Anordnung der Gestapo die Deportationslisten im Bezirk Koblenz
zusammenstellen musste, zugunsten von Familie Wilp Einfluss auf die Liste zu nehmen. Doch Dr. Treidel war
wegen der Vorgaben der Gestapo machtlos und musste Familie Wilp auf die Liste setzen. Schließlich wurde die
vierköpfige Familie am 27.2.1943 in ihrer Wohnung in der Mittelstraße 84 verhaftet und ins Neuwieder Gefängnis
verbracht. In der Nacht vom 28.2. zum 1.3.1943 transportierte man sie zum Koblenzer Hauptbahnhof und zwang
sie, den von Stuttgart über Karlsruhe, Trier, Koblenz, Bonn, Düsseldorf, Dortmund, Bielefeld und Berlin geführten
Sammeltransportzug ins Vernichtungslager Auschwitz zu besteigen. Die Koblenzer Gestapo protokollierte die
Verschleppung am 11.3.1943 mit den damals üblichen verschleiernden, nach heutigem Verständnis zynischen
Worten: „Wilp wurde mit seiner Ehefrau und seinen beiden Söhnen am 2.3.1943 evakuiert. - Vermögen wurde
aufgrund des Gesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens eingezogen.“ Augenzeuge Dr.
Treidel bestätigt das Deportationsgeschehen gleich zweimal, wenn auch um einen Tag abweichend von den
Angaben der Gestapo. Am 1.3.1943 teilte er Julius Meyer im schlesischen Münsterberg mit, er habe soeben die
vierköpfige Familie Wilp am Koblenzer Bahnhof verabschiedet. „Es kam für Ihre Verwandten natürlich ganz
plötzlich. Sie waren alle 4 sehr gefasst, haben auch das vorgeschriebene Gepäck ordnungsmässig mitnehmen
können. Ihre Schwester [Frieda Wilp geb. Meyer] hat mich dann an der Bahn gebeten, Ihnen Vorstehendes
mitzuteilen; sie würde sobald möglich und zulässig Ihnen selber noch schreiben.“ Und am 16.3.1943 schrieb er:
„… Ihre Schwester mit Familie reisten ja, wie bereits berichtet, Montags [1.3.1942] zusammen von hier ab. „Ich
hatte“, bemerkte er resigniert, „wenn die Beweise [für die halbarische Abstammung] auch schwer zu erbringen
gewesen wären, doch die Hoffnung, dass diese Sache zu einem guten Ende hätte geführt werden können.“ Auch
für Dr. Treidel stand am Ende seiner aufopfernden Wahrnehmung der rechtlichen Belange der Juden in Koblenz
und Umgebung der Tod. Nur vier Monate nach dem Abtransport von Familie Wilp deportierte man ihn im Juni
1943 als einen der letzten Koblenzer Juden zusammen mit seiner Frau Erna geb. Hecht (1892-1944) von Koblenz
über Köln nach Theresienstadt und von hier am 16.10.1944 nach Auschwitz, wo beide unmittelbar nach ihrer
Ankunft ermordet wurden.
Der aus alten schäbigen Personenwagen bestehende Sammeltransport, den Familie Wilp am 1.3.1943 in Koblenz
besteigen musste, hatte in den frühen Morgenstunden des 28.2. den Trierer Güterbahnhof verlassen. Unter den 69
aus Trier deportierten Juden befand sich auch der spätere Tierarzt und seit 1987 Vorsitzende der Jüdischen
Kultusgemeinde Koblenz, Dr. Heinz Kahn (geb. 1922). Der Transport traf noch in den Abendstunden des 1.3. in
Dortmund ein, wo er auf das Gelände des Schlachthofs rangiert wurde. Alle Insassen mussten den Zug verlassen
und die Nacht in der Viehhalle verbringen. Mitten im allgemeinen Chaos bot sich Dr. Kahn plötzlich ein bizarres
Bild: Zwischen den Deportierten bewegten sich zwei Personen in Wehrmachtsuniformen, die allergrößtes
Aufsehen erregten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Adolf und Hermann Wilp. Wie sie es trotz aller
Kontrollen schafften, in Militärkleidung einen Deportationszug zu besteigen, ist ebenso spektakulär wie die Frage,
weshalb sie sich überhaupt noch im Besitz ihrer Uniform befanden. Schließlich waren beide schon vor einer
geraumen Weile als Juden aus der Wehrmacht entfernt worden. Auf jeden Fall dürfte ihr Auftritt in Uniform ein
ebenso gewagter wie seltener Vorgang im gesamten Deportationsgeschehen der NS-Zeit gewesen sein. Der am
nächsten Tag (2.3.) am Dortmunder Schlachthof zusammengestellte, nun aus Güter- oder Viehwagons bestehende
Deportationszug mit rund 1500 Personen traf am 3.3.1943 in Auschwitz ein. Frieda Wilp wurde auf der
„Judenrampe“ für „leichte Arbeit selektiert“, wie man den zur Vernichtung bestimmten Menschen vorgaukelte,
tatsächlich aber sofort ins Gas geschickt. Das Amtsgericht Neuwied erklärte sie 1952 mit Datum 31.3.1943 für tot.
Auch ihr damals vierzehnjähriger Sohn Herbert musste diesen Weg gehen. Die genauen Umstände und der
Zeitpunkt seiner Ermordung konnten nie ermittelt werden. Nach der 1955 vom Amtsgericht Neuwied getroffenen
Feststellung wurde Herbert mit Datum 31.12.1945, also rund acht Monate nach Kriegsende, für tot erklärt.


Aufenthalt und Rückkehr aus den Konzentrationslagern


Adolf Wilp und Sohn Hermann wurden dagegen nach ihrer Ankunft in Auschwitz nicht zur direkten Ermordung,
sondern zur Zwangsarbeit „selektiert“. Ob ihnen dabei die Wehrmachtsuniformen einen gewissen Schutz boten, ist
nicht überliefert. Untergebracht im so genannten Stammlager, wurden ihnen Häftlingsnummern eintätowiert, mit
denen sie fortan statt ihres Namens angesprochen wurden. Adolf Wilp erhielt die Nummer 105060, Sohn Hermann
die Nummer 105061. Vater Wilp, der sich noch im Januar 1944 in Auschwitz aufhielt, wurde im Januar 1945 auf
einen Todesmarsch von Auschwitz in das niederschlesische Konzentrationslager Groß-Rosen im heutigen Polen
getrieben. Der Marsch führte u. a. über den fünf Kilometer von der tschechoslowakischen Grenze entfernten Ort
Patschkau, in dem sich zur selben Zeit Familie Julius Meyer in ihrem Wohnwagen versteckt hielt. Doch schon am
15.2.1945 wurde Adolf Wilp ins Konzentrationslager Flossenbürg, Außenkommando Leitmeritz, verlegt. Der
sieben Kilometer von Theresienstadt entfernte Lagerkomplex war ebenfalls ein Arbeitslager. Hier erhielt er die
Häftlingsnummer 88700. Erst am 9./10.5.1945 von der Roten Armee befreit, kehrte Adolf Wilp am 25.5.1945 aus
Leitmeritz nach Neuwied zurück. Seine Schwägerin Agnes Meyer, die mit ihrem Mann Julius und Sohn Herbert
(1926-1985) Mitte November 1945 in Neuwied eintraf, berichtete 1988, dass Adolf Wilp zu diesem Zeitpunkt
noch immer Häftlingskleidung getragen habe. Er sei es auch gewesen, der sie und ihren Mann überredet habe,
nicht in ihren Vorkriegswohnort Köln zurückzukehren, sondern die Zukunft in Neuwied zu gestalten. Adolf Wilp
wandte sich wieder seinem erlernten Beruf zu und betrieb einige Jahre in Neuwied im Eckhaus
Mittelstraße/Luisenplatz ein Schuhgeschäft. 1953 zog er nach Mannheim und ging 1962 in Frankfurt eine zweite
Ehe ein. Er starb 1971 in Bad Homburg.
Hermann Wilp wurde am 28.1.1945 von Auschwitz in das Konzentrationslager Mittelbau Dora, Außenlager
Ellrich, nördlich von Nordhausen, verlegt, wo er zwischen dem 1. und 4. Februar eintraf. Hier registrierte man ihn
mit der Haftnummer 108145. Über die Art und Umstände, unter denen er in Auschwitz und Mittelbau Dora zur
Zwangsarbeit herangezogen wurde, liegen keine Erkenntnisse vor. Dagegen berichtete Frau Norma Börder (geb.
1930) aus Neuwied-Niederbieber von einer bisher unbekannten Facette der Lageraufenthalte Hermanns. Frau
Börder hatte sich aufgrund eines am 27.11.2010 in der Neuwieder Ausgabe der Rhein-Zeitung veröffentlichten
Aufrufs: „Welcher Neuwieder kennt das Schicksal der Familie Wilp?“, gemeldet. Sie gab an, Hermann Wilp gut
gekannt zu haben, da sie für dessen 1945 in der Junkerstraße gegründete Firma in Handarbeit Loshülsen mit
Gewinnen und Nieten befüllte. Sie sei ihm damals sehr dankbar für die Arbeitsstelle gewesen. Einmal habe er in
ihrem und im Beisein ihres späteren, inzwischen verstorbenen Mannes von der Kriegszeit erzählt. Dabei habe er
eine Bemerkung gemacht, die sie und ihren späteren Mann sehr erstaunte und die ihr deshalb bis heute in lebhafter
Erinnerung geblieben sei. Hermann habe nämlich erwähnt, „Kapo“ im Konzentrationslager gewesen zu sein. Als
Kapos wurden so genannte Funktionshäftlinge bezeichnet, die von der Lagerleitung/SS dazu bestimmt wurden,
Mithäftlinge zu beaufsichtigten. Im Gegenzug erhielten sie Vergünstigungen und erhöhten nicht zuletzt auch ihre
Überlebenschancen. Auf den Einwand ihres späteren Mannes, er könne mit seinen jüdischen Wurzeln doch
unmöglich eine Aufseherfunktion ausgeübt haben, antwortete Hermann, was glaubt ihr, warum ich hier mit euch
zusammensitze? Angaben, in welchem Konzentrationslager - Auschwitz oder Mittelbau Dora - Hermann als Kapo
eingesetzt war, konnte Frau Bröder nicht machen. Ihr Bericht ist der bislang einzige Anhaltspunkt für Hermann
Wilps Aufsehertätigkeit. Amtliche Dokumente, die diesen Sachverhalt bestätigen oder entkräften könnten, ließen
sich nicht ermitteln. Auch die Protokolle der nach Kriegsende von den Alliierten durchgeführten Befragung
Hermanns enthalten keine diesbezüglichen Hinweise. Als sich Anfang April 1945 amerikanische Truppen
näherten, ließ die SS den Gesamtkomplex Mittelbau Dora räumen. In Bahntransporten oder Fußmärschen, die
später als Todesmärsche bekannt wurden, verlegte man die Häftlinge in andere Konzentrationslager. Die meisten
Todesmärsche hatten das Konzentrationslager Bergen-Belsen zum Ziel, in das auch Hermann gelangte. Aus dem
am 15.4.1945 der britischen Armee übergebenen Lager wurde er aufgrund der verhängten Quarantäne erst sieben
Tage später entlassen. In Bergen-Belsen hätten sich beinahe die Lebenswege von Hermann Wilp und Anne Frank
noch einmal gekreuzt. Sie und ihre Schwester Margot waren von Auschwitz nach Bergen-Belsen überstellt
worden, fielen aber einen Monat vor dem Eintreffen von Hermann Anfang März 1945 der hier grassierenden
Typhus-Epidemie zum Opfer. Bei Kriegsende galt Hermann Wilp zunächst als vermisst. Doch fünf Tage nach
seiner Entlassung tauchte er am 27.4.1945 in Emsdetten auf, dem Geburtsort seines Vaters. Hier hielt er sich bis
zum 28.5. im Haus Am Wasserturm 10 seines Onkels Alfons Wilp (1899-1965) auf, ehe er nach fast
siebenjähriger unfreiwilliger Abwesenheit am 4.6.1945 in seine Heimatstadt Neuwied zurückkehrte. 1950 heiratete
Hermann Wilp eine Koblenzerin. Seinen wohl aufgrund der einschneidenden Erlebnisse während der NS-Zeit
gereiften Plan, Deutschland zu verlassen und nach Brasilien auszuwandern, setzte er nicht in die Tat um.
Vermutlich aus den gleichen Gründen fühlte er sich auch keiner Glaubensgemeinschaft mehr zugehörig. Bei
seinem Umzug von Neuwied nach Koblenz-Metternich gab er 1956 an, bekenntnislos zu sein. Nach zweijährigem
Aufenthalt in Metternich zog die Familie nach Kaiserslautern, wo sie 1959 endgültig sesshaft wurde. Hier starb
Hermann Wilp 2000, seine Frau 2007 in Lahnstein.

Maßgeblich unterstützt wurde die Recherche von: Gertjan Broek (Anne Frank Stichting Amsterdam), Miriam Mijatovich-Keesing (Netherlands Institut for War
Documentation), Dorothee Lottmann-Kaeseler, Wiesbaden, Helene Thill, Koblenz, und Rudolf Kattenbeck (Heimatbund Emsdetten).