DR. FRITZ MICHEL
Der Arzt Fritz Michel (1877-1966) und die Zwangssterilisierungen am Evangelischen Stift St. Martin in Koblenz in der Zeit des Nationalsozialismus
Auf dieser Seite können Sie sich über das Leben und Wirken von Fritz Michel (1877-1966) informieren, der in der Zeit des Nationalsozialismus als Chefarzt des Evangelischen Stifts St. Martin in Koblenz für mindestens 395 Zwangssterilisierungen verantwortlich war. Der Text ist in sechs Kapitel untergliedert. In einem siebten Kapitel können Sie sich über eine medizinische Perspektive auf die Zwangssterilisationen im Nationalsozialistischen Deutschland informieren.
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Der junge Fritz Michel - Eine erfolgreiche Medizinerkarriere im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Fritz Michels Werdegang als Arzt war in mancherlei Hinsicht typisch für die Mediziner seiner Generation. Am 17. September 1877 in Niederlahnstein als ältester Sohn des Landarztes Theodor Michel in eine katholische bildungsbürgerliche Familie hineingeboren, war für ihn schon früh klar, dass er beruflich in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Er absolvierte seine Schulausbildung in der Volksschule Niederlahnstein, am Realprogymnasium in Oberlahnstein und am Kaiserin-Augusta-Gymnasium – dem heutigen Görres-Gymnasium – in Koblenz und nahm anschließend ein Medizinstudium auf, das ihn nach Tübingen, Kiel und Marburg führte. In Tübingen wurde Fritz Michel Mitglied der Studentenverbindung Corps Suevia. Nach Abschluss des Studiums und der Zeit als Assistenzarzt heiratete er 1905 die ebenfalls aus einer Medizinerfamilie stammende Luise von Ibell und trat im gleichen Jahr, mit 28 Jahren, eine Stelle als Frauenarzt im Evangelischen Stift St. Martin in Koblenz an. 1907 erwarb er eine repräsentative Villa im Markenbildchenweg und gehörte fortan zu den Honoratioren der Koblenzer Stadtgesellschaft. Schon in dieser Zeit machte sich Fritz Michel neben seiner Berufstätigkeit auch einen Namen als Verfasser heimat- und kunstgeschichtlicher Werke – eine Freizeitbeschäftigung, die ihn sein ganzes Leben begleitete. Seine Publikationen bewegten sich auf der Höhe des damaligen wissenschaftlichen Forschungsstandes, einige gelten noch heute als Standardwerke.
Den Ersten Weltkrieg, in dem sein jüngerer Bruder Albert ums Leben kam, machte Fritz Michel als Stabsarzt mit. In der Nachkriegszeit wurde er dann auf einem weiteren Tätigkeitsgebiet aktiv, nämlich in der Kommunalpolitik. Von 1919 bis 1929 war er als Vertreter der Bürgerlichen Arbeitsgemeinschaft – eines lokalen Zusammenschlusses aus Vertretern der linksliberalen DDP, der rechtsliberalen DVP und der nationalkonservativen DNVP – Mitglied der Koblenzer Stadtverordnetenversammlung. Auch beruflich waren die 1920er Jahre für Fritz Michel eine sehr erfolgreiche Zeit. Das Evangelische Stift expandierte, und zum 1. Juli 1927, ein knappes Vierteljahr vor seinem 50. Geburtstag, wurde er zum Chefarzt des Krankenhauses ernannt.
Eugenik wird salonfähig - Erblichkeitslehre und „Rassenhygiene“ im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs der 1920er Jahre
Vermutlich hat Fritz Michel in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg auch die wissenschaftliche Diskussion um die gerade im Deutschland der Weimarer Republik immer populärer werdende Eugenik zur Kenntnis genommen. Die eugenische Lehre, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hatte, verband die Erkenntnisse der modernen Vererbungslehre und der Evolutionstheorie Charles Darwins mit gesellschaftspolitischen Leitvorstellungen. Sie sah die primäre Aufgabe staatlicher Gesundheitspolitik in der aktiven Steuerung der natürlichen Selektion in der Bevölkerung durch Stärkung „hochwertiger“ Erbanlagen bei gleichzeitiger Zurückdrängung „minderwertiger“. Ziel der Eugeniker war es, einem vermeintlich drohenden gesellschaftlichen Niedergang, vor dem man sich in Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg besonders stark fürchtete, durch gezielte bevölkerungspolitische Maßnahmen entgegenzuwirken – etwa durch Förderung von Ehen zwischen „genetisch gesunden“ Menschen und Eindämmung der Fortpflanzung von Menschen mit genetisch bedingten Krankheiten durch Sterilisierung. Solche eugenischen Denkmuster waren seit den 1920er Jahren von links bis rechts in allen politischen Lagern (außer der KPD) und auch außerhalb Deutschlands zu finden – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, vor allem mit Blick auf Freiwilligkeit oder Zwang der durchzuführenden Maßnahmen. In Deutschland gewannen sie durch das erstmals 1921 erschienene Standardwerk der drei Mediziner Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz, Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, gerade bei Ärzten eine enorme Popularität. Man kann davon ausgehen, dass auch der Gynäkologe Fritz Michel das Werk kannte.
Zwangssterilisierungen als nationalsozialistische Regierungspolitik - Fritz Michel als williger Vollstrecker des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung war Fritz Michel selbst an eugenischen Maßnahmen beteiligt. Die NS-Ideologie war zutiefst von eugenischem Gedankengut durchdrungen; ihre Vertreter setzten es nach 1933 mit einer bisher nicht gekannten Radikalität und unter massivem autoritativem Zwang in konkrete Politik um und bedienten sich dabei der bestehenden medizinischen Infrastruktur. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat, bezweckte, die Träger von „erblicher Minderwertigkeit“ an der Fortpflanzung zu hindern, und schuf die Grundlage für die Zwangssterilisierung von ungefähr 400.000 Menschen. Bei den Amtsgerichten eingerichtete „Erbgesundheitsgerichte“ entschieden über Anträge auf Unfruchtbarmachung geistig oder körperlich behinderter, psychisch kranker oder alkoholabhängiger Menschen; die auch gegen den Willen der Betroffenen vollzogene Durchführung der Sterilisierungen erfolgte in dazu ermächtigten Krankenhäusern.
Im Jahr 1934 hat das Koblenzer Erbgesundheitsgericht 530 Sterilisierungen angeordnet, 1935 waren es sogar 920. In diesen und in den Folgejahren wurden auch im Evangelischen Stift St. Martin in Koblenz mindestens 395 Menschen gegen ihren Willen zwangssterilisiert. Als Gynäkologe führte Fritz Michel zahlreiche Eingriffe selbst durch; in einem Fall ist eine Frau an der Operation oder deren Folgen gestorben. Dass Fritz Michel, der 1936 in die NSDAP eintrat, nicht unter Zwang handelte, geht aus der Tatsache hervor, dass Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft überhaupt nur dann für die Durchführung von Sterilisierungen in Frage kamen, wenn sie sich freiwillig dazu bereit erklärten. Der gesellschaftliche Eugenik-Diskurs seit den 1920er Jahren hat sicher einen beträchtlichen Teil zu dieser Freiwilligkeit beigetragen. Wie sehr Fritz Michel damals von eugenischen Denkmustern geprägt und die Handlungsspielräume des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses soweit wie möglich auszuschöpfen bestrebt war, macht ein Fall aus dem Jahr 1935 deutlich: Beim Stellvertreter Hitlers erwirkte er eigens eine Sondergenehmigung, um bei einer schwangeren jungen Frau, der man „angeborenen Schwachsinn“ attestiert hatte, eine zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlaubte Abtreibung in Verbindung mit einer Sterilisierung durchführen zu können, was dann auch geschah.
Nach den schweren Bombenangriffen auf Koblenz im Herbst 1944 wurde das Evangelische Stift St. Martin vorübergehend nach Bendorf-Sayn verlegt, in die Räume der 1869 von Meyer Jacoby gegründeten und bis 1942 bestehenden Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke. Auch in dieser Einrichtung war es ab 1934 zu zahlreichen Zwangssterilisierungen gekommen. Viele der jüdischen Patienten waren bei Auflösung der Anstalt 1942 deportiert und ermordet worden. Nach einer vorübergehenden Nutzung der Räumlichkeiten als Militärlazarett war von Oktober 1944 bis März 1945 das Evangelische Stift in dieser früheren Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt untergebracht.
Fritz Michel in den Nachkriegsjahrzehnten - Der lange Schatten eugenischen Denkens in der frühen Bundesrepublik
Nach 1945 hat Fritz Michel nie geleugnet, in der NS-Zeit Zwangssterilisierungen durchgeführt zu haben, berief sich dabei aber immer auf das damals geltende Recht und den seinerzeitigen Stand der Wissenschaft. Generell spielte das Thema der Zwangssterilisierungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts nur eine marginale Rolle – zu sehr waren eugenische Denkmuster noch bis in die 1960er Jahre gesellschaftsfähig. Bezeichnenderweise begründete die Spruchkammer, die über Fritz Michels Verstrickungen in das NS-System zu urteilen hatte, seine Einstufung als Mitläufer mit dem Argument, die von ihm vorgenommenen Sterilisierungen seien „nur aus eugenischen, nicht aus rassischen Gründen“ erfolgt, und noch 1957 erklärte die Bundesregierung: „Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 ist kein typisch nationalsozialistisches Gesetz.“ Fritz Michel, der 1945 von der französischen Besatzungsmacht mit Berufsverbot belegt worden war, wurde im Rahmen des Spruchkammerverfahrens 1947 zu einer Geldbuße verurteilt und als Chefarzt des Evangelischen Stifts St. Martin in den Ruhestand versetzt; die Weiterführung seiner Privatpraxis in seinem Haus im Markenbildchenweg blieb dem inzwischen 70-Jährigen jedoch gestattet.
In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens widmete sich Fritz Michel verstärkt seinen historischen und kunstgeschichtlichen Forschungen, die ihn schon sein gesamtes Berufsleben begleitet hatten. Auch in der Öffentlichkeit wurden diese Verdienste, die bereits im Jahr 1941 die Philosophische Fakultät der Universität Bonn mit der Verleihung des Ehrendoktorgrades gewürdigt hatte, besonders herausgestellt. Anlässlich seines 75. Geburtstages verlieh ihm die Stadt Koblenz im Jahr 1952 die Ehrenbürgerwürde, 1954 und 1961 ließen ihm auch die Städte Niederlahnstein und Oberlahnstein diese Ehre zuteilwerden. Fritz Michel starb am 30. Oktober 1966. Obwohl er im Jahr 1937 aus der katholischen Kirche ausgetreten und seitdem konfessionslos war, wurde er von einem evangelischen Pfarrer beerdigt.
Der Wandel des Fritz-Michel-Bildes in der Öffentlichkeit - Vom ehrenden Gedenken zur kritischen Distanzierung
Die zunächst uneingeschränkt positive Sicht auf Fritz Michel setzte sich über seinen Tod hinaus fort. 1989 wurde auf Initiative der Stadt Koblenz vor dem Evangelischen Stift St. Martin ein von dem Bildhauer Eberhard Linke angefertigtes Denkmal für Fritz Michel errichtet. Es war aufgrund seiner künstlerischen Gestaltung zunächst sehr umstritten, doch war bei der Diskussion um das Denkmal die Tätigkeit Fritz Michels in der NS-Zeit kein Thema. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als anlässlich Fritz Michels 125. Geburtstag im Jahr 2002 die Broschüre „Heiler und Helfer“ erschien, gab es noch keinerlei kritische Töne in diese Richtung.
Eine veränderte Betrachtung der Zwangssterilisierungen in der NS-Zeit im Allgemeinen und des Wirkens Fritz Michels im Besonderen setzte erst sehr spät ein. Zwar hatten Opferverbände schon seit Jahrzehnten darauf gedrängt, das Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung auch auf die in der NS-Zeit zwangssterilisierten Menschen anzuwenden, aber erst 1974 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses förmlich außer Kraft gesetzt und erst 1986 wurde es für dem Grundgesetz widersprechend erklärt. 1988 ächtete der Bundestag die auf Grundlage dieses Gesetzes durchgeführten Zwangssterilisierungen, 1998 hob er mit einem eigenen Gesetz die von den Erbgesundheitsgerichten in der NS-Zeit erlassenen rechtskräftigen Beschlüsse zur Sterilisierung auf und sprach 2007 die Ächtung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aus.
Zehn Jahre später wurde erstmals in Koblenz das Wirken Fritz Michels als Arzt kritisch hinterfragt, ausgelöst durch die 2017 vom Landeshauptarchiv Koblenz erarbeitete Ausstellung „'Lebensunwert' – Entwürdigt und vernichtet. Zwangssterilisation und Patientenmorde im Nationalsozialismus im Spiegel der Quellen des Landeshauptarchivs Koblenz“ und die zugehörige Begleitpublikation. Hier wurde die Beteiligung Fritz Michels an den Zwangssterilisierungen eindeutig belegt. Unter Bezugnahme auf das Material dieser Ausstellung hat im Jahr 2018 Joachim Hennig einen Beitrag über die Tätigkeiten Fritz Michels in der NS-Zeit veröffentlicht und die Umbenennung der Koblenzer Fritz-Michel-Straße sowie die Aberkennung der Ehrenbürgerwürde gefordert. Im Evangelischen Stift St. Martin hat sich zeitgleich das Ethikkomitee des Krankenhauses wie auch die Krankenpflegeschule mit der Frage nach dem Umgang mit dem ehemaligen Chefarzt und seinem Denkmal auseinandergesetzt.
Die öffentliche Diskussion um den angemessenen Umgang mit der Erinnerung an Fritz Michel dauert momentan noch an. Im Frühjahr 2020 hat der Koblenzer Stadtrat beschlossen, ihm die 1952 verliehene Ehrenbürgerwürde wieder abzuerkennen, weil er aufgrund der in der NS-Zeit vorgenommenen Zwangssterilisierungen nicht mehr als Vorbild tauge. Der Stadtrat von Lahnstein hat im selben Jahr einen ähnlichen Beschluss gefasst und Fritz Michel die Ehrenbürgerwürde von Niederlahnstein und Oberlahnstein entzogen.
Ein Denkmal neu denken - Die Diskussion über den Umgang mit dem Fritz-Michel-Denkmal vor dem Evangelischen Stift St. Martin
Seit 2021 wird öffentlich darüber debattiert, was mit dem Fritz-Michel-Denkmal vor dem Evangelischen Stift St. Martin geschehen soll. Nachdem zunächst eine Versetzung des Denkmals an einen anderen Ort oder in ein Museum erwogen wurde, fiel schließlich die Entscheidung, das Denkmal vor dem Krankenhaus stehen zu lassen, aber unmittelbar daneben eine Gedenkstele aufzustellen, die an die Opfer der Zwangssterilisierungen erinnert. Diese Stele wurde am 1. September 2022 enthüllt. Ihr Text wurde vom Ethikkomitee des Krankenhauses entworfen und von einem Arbeitskreis unter Vorsitz von Frau Dr. Margit Theis-Scholz, Dezernentin für Bildung und Kultur der Stadt Koblenz, überarbeitet. Mit der Stele verbindet sich die Hoffnung, dass es durch die Konfrontation der Erinnerung an die Opfer mit einem Denkmal, das an einen Täter erinnert, zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Verstrickungen von Medizinern in die Verbrechen der NS-Zeit und mit der Kontinuität eugenischen Denkens in den Jahren und Jahrzehnten danach kommt. Eine entschädigungspolitische Anerkennung zwangssterilisierter Menschen als Verfolgte des Nationalsozialismus ist freilich bis heute nur teilweise erfolgt.
Nie mehr Wegschauen – Medizin und Ärzte im Nationalsozialismus
Prämisse:
Die Auseinandersetzung mit unserer deutschen Vergangenheit ist ein schwerwiegendes Erbe und bedeutet ein nicht enden dürfendes Ringen. Der Prozess ist einerseits gekennzeichnet durch die Konfrontation mit den Unrechtstaten an Opfern und durch die Aufarbeitung der Fakten. Andererseits benötigt er die Übernahme von Verantwortung und eine konsequente Wachsamkeit, Gräueltaten gegen die Menschlichkeit nie wieder zuzulassen.
Die Rolle der Ärzte im nationalsozialistischen Terrorstaat bedarf in einigen Aspekten der speziellen Betrachtung. Ärzte haben auf Grund ihres Berufes eine privilegierte gesellschaftliche Stellung inne. Vor allem aber sind sie durch den Eid des Hippokrates in besonderer Weise dem Erhalt des Lebens, der Würde und der Autonomie der ihnen anvertrauten Patienten verpflichtet.
Drei Aspekte:
1. Die Umsetzung des „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“
Bereits im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich international die Grundzüge der Eugenik („Wohlgeboren“). Der Begriff wurde von Francis Galton 1883 eingeführt. Er war ein Vetter Charles Darwins und wollte Menschen „minderen Wertes“ von der Fortpflanzung ausschließen. 1920 wird erstmalig von dem Juristen Karl Binding und dem Arzt Alfred Hoche der Begriff „lebensunwert“ benutzt.1 Ein Jahr später erscheint der „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“.2 Beide Werke gelten als Vorlage für Adolf Hitlers Rassenkampf.
Bereits am 14.07.1933 wird das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, kurz „Erbgesundheitsgesetz“, verabschiedet. „Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. Angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. Zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, 4. Erblicher Fallsucht [d.h. Epilepsie, B.Sch], 5. Erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), 6. Erblicher Blindheit, 7. Erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung. Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet.“3 Nach heutigem medizinischem Wissen ist lediglich für die Chorea Huntington ein Erbgang nachgewiesen.
Zur Anzeige der sogenannten „Erbkranken“ waren Ärzte, Zahnärzte, Hebammen und Pflegekräfte verpflichtet. Die entstandenen Erbgesundheitsgerichte wurden besetzt mit einem Richter als Vorsitzendem und zwei beisitzenden Ärzten. Letztere waren nicht als medizinische Berater tätig, sondern ausdrücklich als Richter. Die Opfer waren in den Prozessen nicht anwesend und wurden auch nicht von den Richtern begutachtet. Geurteilt wurde allein anhand von Erfassungsbögen und nach Aktenlage. Versuche von Betroffenen oder Angehörigen gegen die Entscheidungen des Erbgesundheitsgerichtes juristisch vorzugehen, scheiterten in den allermeisten Fällen.4
Die unfreiwillige Sterilisierung erfolgt in einem medizinischen Eingriff mittels Durchtrennung des Samenstranges beim Mann oder der Durchtrennung der Eileiter bei der Frau.
Kirchliche Einrichtungen konnten zur Durchführung der Zwangssterilisationen nicht gezwungen werden. Dennoch waren bereits 1936 mehr als 20% der diesen Eingriff vornehmenden Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft.4 Es wird davon ausgegangen, dass in den Jahren 1934 – 1937 ca. 375.000 Sterilisationen durchgeführt wurden. Davon wurden 37% vermeintlich mit Einverständnis der Patienten und 63% gegen den Willen oder ohne Einverständnis der Opfer durchgeführt.5
Erst in den 1980-er Jahren wurde in Deutschland begonnen, das Maß an psychischer und körperlicher Verletzung durch diese Zwangsbehandlung öffentlich zu machen und eine ärztliche Mitverantwortung übernommen.6,7
1998 wurden die Zwangssterilisationsbeschlüsse der Erbgesundheitsgerichte durch Gesetz aufgehoben und im Mai 2007 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durch den Bundestag zu einem NS-Unrechtsgesetz erklärt. Im Januar 2011 gestand der Bundestag den Opfern einen Entschädigungsanspruch im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes zu, nachdem sie jahrzehntelang nicht als Verfolgte des NS-Regimes galten.
2. Parteimitgliedschaften der deutschen Ärzte im Nationalsozialismus, die Ausgrenzung jüdischer Ärzte und die Aufarbeitung in der Nachkriegsära
Mit 44,8 % weist die Gruppe der Mediziner den höchsten Anteil an NSDAP Mitgliedschaften im Vergleich mit anderen Berufsgruppen auf. Die Parteizugehörigkeit bei den Lehrkräften lag z.B. bei 25 %.8
Bereits im Februar 1933 (Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar) kam es lokal zu massiven Einschüchterungsmaßnahmen gegen jüdische Ärzte. Ab April 1933 begann die Phase ihrer systematischen Entrechtung. Ihnen wurde die Approbation entzogen. „Nichtarische“ Ärzte wurden aus dem Beamtenstatus entlassen, d.h. sie konnten weder an kommunalen Einrichtungen noch im städtischen Gesundheitswesen, noch an Universitätskliniken tätig sein. Zuvor angesehene Ärzte wurden als „Krankenbehandler“ herabgewürdigt, die lediglich jüdische Patienten behandeln durften. In der Folge emigrierten viele betroffene Ärzte oder waren auf die Ausübung ihres Berufes in Privatpraxen mit niedrigem Einkommen angewiesen und viele wurden in Konzentrationslagern ermordet.9
Die Aufarbeitung seitens der Ärzteschaft ist gekennzeichnet durch einen langen und schmerzhaften Weg, der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten geprägt war vom Verleugnen und Wegsehen. Ein nicht unerheblicher Teil der Ärzte, die das nationalsozialistische System ge- und unterstützt hatten, haben nahezu übergangslos in der jungen Bundesrepublik weitergearbeitet. Sie waren teilweise in herausgehobenen Positionen in Wissenschaft, Krankenversorgung und Lehre tätig. Dieser Weg unterscheidet sich nicht wesentlich von dem anderer Berufsgruppen.10
Wegweisend ist die Nürnberger Erklärung der deutschen Ärzteschaft, die leider erst 2012 erfolgte. Sie bekennt die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin. Das tiefe Bedauern, dass Ärzte entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzungen an unzähligen Opfern schuldig geworden sind, fand eine öffentliche Ausdrucksform. In der vom 115. Deutschen Ärztetag verabschiedeten Erklärung bittet die deutsche Ärzteschaft ausdrücklich die Opfer um Vergebung und verpflichtet sich, die Aufarbeitung der Unrechtstaten aktiv durch finanzielle und institutionelle Unterstützung zu fördern.11
3. Ärzte, die sich widersetzten
Die Geschichte der Ärzte, die sich aus einer inneren Haltung heraus dem NS-Regime zumeist passiv und still entgegengestellt hatten, unter Inkaufnahme von Entlassung und Ausgrenzung, von Karriereabbrüchen und finanziellen Einbußen, ist bislang sehr unzureichend und wenig über das Anekdotische hinausgehend aufgearbeitet worden. Die aufschlussreichsten Dokumente finden sich in der akribischen und umfassenden Darlegung „Gerechte unter den Völkern“ der internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem.12
Ausblick:
Angesichts des Unrechts an den Opfern der Zwangssterilisationen und -abtreibungen in der NS-Zeit stellen sich heutigen Medizinern herausfordernde Fragen:
Wie hätten wir uns damals verhalten? Hätten wir das Unrecht erkannt, den Opfern beigestanden und dann den nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch im Sinne des Wortes den die Existenz bedrohenden Schaden in Kauf genommen?
Aus den Zwangssterilisationen und -abtreibungen in unserer Geschichte nehmen wir die immerwährende Aufgabe mit, das Erinnern an das Geschehen wach zu halten, es weiter aufzuarbeiten, uns ethischer und moralischer Normen in unseren medizinischen Handlungen zu vergewissern und neue medizinische Entwicklungen daran zu messen.Die Mahnung „Mensch, achte den Menschen“ auf einer Stele in der Gedenkstätte der Tötungsanstalt Hadamar sollte unser Reden, Denken und Handeln als umfassende innere Einstellung und Geisteshaltung dauerhaft und maßgeblich beeinflussen.
Quellen:
1 Binding, K., und Hoche, A.: Die Freigabe und Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form. 2. Auflage, Leipzig 1922
2 Baur, E., Fischer, E., Lenz, F.: Abriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene. Band I und II. 2. Auflage, München 1923
3 Reichsgesetzblatt I, S. 529
4 Klee, E.: „Euthanasie“ im dritten Reich. 3. Auflage, Frankfurt a.M., 2018. S. 43ff
5 Sofair, A.N., Kaldjian, L. C.: Eugenic Sterilization and a qualified Nazi Analogy: The United States and Germany: 1930 – 1945. Ann Intern Med. 2000; 132: 312 - 319
6 Toellner, R.: Ärzte im Dritten Reich. Dt. Ärztebl. 1989; 86 2272-2280
7 Gerst, T.: Nürnberger Kongress: Ärztliches Handeln als ethische Herausforderung Dt Ärztebl 1996; 93: A-3104–3107
8 Rüther, M.: Ärzte im Nationalsozialismus. Deutsches Ärzteblatt, 2001, A3264 – 3265
9 Jütte, R.: Medizin und Nationalsozialismus. Göttingen 2011
10 Fangerau, H., Martin, M., Karenberg, A.: Neurologen und Neurowissenschaftler: Wer war ein Nazi? Zum Umgang mit der NS-Belastung in der Geschichte der deutschen Medizin. Nervenarzt 2020; 91 (Suppl 1) S 3 – 12
11 Nürnberger Erklärung - Bundesärztekammer (bundesaerztekammer.de)
12 Yad Vashem – Internationale Holocaust Gedenkstätte | www.yadvashem.org |
Autor:innen: Dr. Andreas Metzing und PD Dr. med. Beate Schoch